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REZENSION: Oleg Dik, Realness through Mediating Body: The Emergence of Charismatic/Pentecostal Communities in Beirut. Göttingen: V&R unipress, 2017.

von Esther Berg-Chan

Mit Realness through Mediating Body, erschienen 2017 bei Vandenhoeck und Ruprecht, legt Oleg Dik (Professor für Urbane Theologie und Soziologie an der Evangelischen Hochschule TABOR in Marburg) eine Arbeit zur Entstehung pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften in Beirut vor. Bei der Monographie handelt es sich um die Dissertation, mit der Dik 2015 an der Humboldt-Universität in Berlin im Fach Religionswissenschaft promoviert wurde.

Ausgangsbeobachtung der Arbeit ist die Zentralität der Kategorie „wirklich“ (real) im alltäglichen Sprechen über Wirklichkeitserfahrungen und -deutungen bei gleichzeitiger Wandelbarkeit und Vielfalt scheinbar nicht zu vereinbarender sozialer Wirklichkeiten (oder Realitäten) in einer gemeinsamen Welt (a common world, S. 16). Befragt nach dem Grund für ihre Konversion gaben Diks pfingstlich-charismatische Informantinnen und Informanten in Beirut ihm zur Antwort: Jesus sei für sie Wirklichkeit geworden (Jesus became real to me, S. 15). Diks Informantinnen und Informanten sind damit nicht allein. Auch Diks akademische Kolleginnen und Kollegen bezogen sich ihm gegenüber in der Begründung des Wahrheitsanspruches ihres Weltverständnisses auf die Erfahrung von „Wirklichkeit“ (realness), rekurrierten dabei aber auf eine gänzlich andere (soziale) Wirklichkeit als Diks pfingstlich-charismatische Befragte. Trotz offensichtlich divergierender erlebter Wirklichkeiten versteht Dik beide Sprecherpositionen als auf einen gemeinsamen Wahrnehmungsrahmen (a common framework, S. 16) bezogen, innerhalb dessen unterschiedliche Welterfahrungen und -deutungen überhaupt erst als solche erfahren und beschrieben werden könnten (vgl. S. 13-16). Dieser gemeinsame Wahrnehmungsrahmen ist für Dik die „material-kulturelle Welt“ (material-cultural world, S. 255), die er als „Realität“ (reality) von der Erfahrung von Wirklichkeit (realness) unterscheidet.

Diese Erfahrung von Wirklichkeit (realness) möchte Dik in seiner Arbeit verstehen und konzeptuell greifbar machen. Anliegen der Arbeit ist es, auf diese Weise nicht nur zu einem tieferen Verständnis der Entstehung pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften im Nahen Osten beizutragen. Mit der Konzeptualisierung von „Wirklichkeit“ als Forschungsparadigma (paradigm of realness, S. 26) möchte der Autor auch einen neuen, interdisziplinären Ansatz zur Erforschung „religiöser wie auch säkularer sozialer Phänomene“ (S. 26, Übersetzung E.B.-C.) vorlegen, der beim Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure ansetzt und dieses Ernst nimmt. Gemeint ist damit ein Ansatz, der das wirklichkeitsgenerierende Potential unterschiedlicher Selbst- und Weltverständnisse symmetrisch begreift und nicht bestimmte Verständnisse (oder Deutung dieser Verständnisse) auf Basis eigener (z.B. reduktionistischer) Vornahmen von vornherein privilegiert.

Als zentralen Ort der Wirklichkeitsproduktion und -erfahrung macht Dik den Körper als vermittelnde Instanz zwischen der material-kulturellen Welt und verschiedenen religiös ebenso wie nicht-religiös verstandenen Meta-Narrativen aus. Der vermittelnde Körper (mediating body) ist für Dik der Ort, an dem sich Wirklichkeits- und damit auch Sinnproduktion als „körperlich-mentale Kohärenzerfahrung“ (bodily-mental coherence, S. 256) im Spannungsfeld von material-kultureller Welt und verschiedenen Meta-Narrativen ereignet (vgl. S. 256). Dieser Kohärenz- oder Wirklichkeitserfahrung (ebenso wie dem Scheitern in der Produktion oder dem Zustandekommen einer solchen Erfahrung) geht Dik in seiner Arbeit in verschiedenen Praxiszusammenhängen nach: in pfingstlich-charismatischen Ritualen, dem Alltagsleben pfingstlich-charismatischer Akteurinnen und Akteure und in ihren Konversionserzählungen.

Die Arbeit stützt sich auf 25 Monate ethnographischer Feldforschung in unterschiedlichen pfingstlich-charismatischen Gemeinschaften in Beirut, wobei für die Analyse vier verschiedene Gemeinschaften ausgewählt wurden: die Hauskirche Meeting with God, die Woche für Woche in verschiedenen Wohnzimmern der Stadt zusammenkommt, die charismatisch geprägte maronitische/römisch-katholische Gemeinde Chemin Neuf, die sich im Keller ihrer maronitischen Mutterkirche trifft, die rasch wachsende Pfingstkirche Abundant Life, im Armenviertel Borj Hammoud gelegen, und die nicht konfessionell gebundene Gemeinschaft Tent of Praise, die im Keller eines Einkaufszentrums zu Hause ist. Mit dieser Auswahl erhebt Dik nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften in Beirut abzudecken, wohl aber eine gewisse Bandbreite aufzuzeigen (vgl. S. 21; 35).

Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel. In Kapitel 1 (Introductory remarks, S. 13-27) legt Dik die Genese seiner Forschungsfragen sowie sein methodisches Vorgehen dar. Kapitel 2 (The emergence of Charismatic/Pentecostal communities in Beirut, S. 29-225) ist der Entstehung pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften in Beirut mit Blick auf die verkörperte Evidenzerfahrung pfingstlich-charismatischer Wirklichkeiten in Ritualen, dem Alltagsleben und Konversionserzählungen gewidmet. Durchweg bringt Dik darin seine ethnographischen Beobachtungen mit theoretischen Ansätzen und dem libanesischen Kontext in Dialog. In Unterkapitel 2.1 (Introductory remarks, S. 29-42) geht es hierfür zunächst um die relationale Verortung pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften in Beirut mit Blick auf das globale evangelikale und pfingstlich-charismatische Feld, die christliche Landschaft im Libanon und die urbane Landschaft Beiruts. In Unterkapitel 2.2 (Ritual as bodily mediation, S. 42-125) entfaltet Dik sein Verständnis von Ritual als räumlich und zeitlich abgrenzbarer Akt der verkörperten Vermittlung zwischen narrativen Diskursen (z.B. der Vorstellung göttlicher Handlungskapazität und biblischen Narrative) und „der Welt“ (in diesem Fall den spezifischen materialen, sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen bzw. Ermöglichungsstrukturen des libanesischen Kontexts), der auf eine „körperlich-mentale Kohärenzerfahrung“ (s.o.) zielt. Diese wirkt – idealerweise und nie spannungsfrei – in den Körper eingeschrieben über den Ritualkontext hinaus in alle Bereiche des alltäglichen Lebens hinein, wie Dik in Unterkapitel 2.3 (Bodily mediation in the everyday life, 125-181) ausführt. In Unterkapitel 2.4 (Testimony as bodily mediation, S. 181-225) widmet sich Dik dem Genre der Konversionserzählung, die er als ritualisierte, verkörperte Performance begreift (vgl. S. 182; 195). Als solches zielten Rituale nicht nur darauf, über geteilte Meta-Narrative gleichsam zu berichten, sondern würden diese vielmehr auf vielfältige Weise inszenieren, damit erfahrbar machen und (im Rahmen kollektiver Rituale) als geteilte Wirklichkeit auf Dauer stellen (vgl. S. 182; 223).

In Kapitel 3 (Interlude: Sketching theoretical perspectives, S. 227-254) diskutiert Dik verschiedene theoretische Perspektiven auf Religion(en) im Allgemeinen und auf sein ethnographisches Material im Besonderen. Anliegen dieses Kapitels ist es nicht nur, die epistemologischen, sondern auch ontologischen Vorannahmen der Arbeit zu explizieren. In Abgrenzung von reduktionistischen materialistischen und relativistischen Positionen spricht Dik sich für eine Position aus, die Gott als „theoretische Möglichkeit“ (theoretical possibilty, S. 245-251) annimmt. Auf diese Weise möchte Dik nicht nur zu einer möglichst dichten, nicht-reduktionistischen Beschreibung verschiedener „Lebenswirklichkeiten“ (differing bodily ways of being in the world, S. 227) in einer „geteilten Realität“ (as a part of the same shared reality, S. 227) gelangen, sondern auch Raum für die Ko-Existenz verschiedener Lebenswelten (life worlds, S. 227) schaffen, ohne dabei jedoch ihre spannungsreiche Verschränkung auszublenden. Diks Anliegen ist somit nicht nur theoretischer Natur (wobei er vor allem an Diskussionen aus dem Bereich der Sozialontologie anschließt), sondern weist auch eine ethische Dimension auf (vgl. S. 227).

Kapitel 4 schließlich (Conclusion, S. 255-277) bietet nicht nur eine Zusammenführung der Diskussion und Konzeptualisierung des entwickelten „Wirklichkeitsparadigmas“. Das Kapitel bietet auch eine äußerst gelungene Beschreibung jener zwei verschiedenen „Lebenswirklichkeiten“ – und ihrer spannungsreichen Interferenz – durch die Linse der in der Arbeit entwickelten theoretischen Werkzeuge, die Dik in seiner Feldforschung (gleichzeitig) erlebte: die Lebenswirklichkeit seiner pfingstlich-charismatischen Informantinnen und Informanten und die „akademische Wirklichkeit“ (academic realness, S. 264) seiner Kolleginnen und Kollegen am Orient-Institut-Beirut.

Diks Arbeit ist eine wahre Fundgrube an ethnographischen Beobachtungen der gelebten Religiosität pfingstlich-charismatischer Gemeinschaften im Nachkriegslibanon, insbesondere Beirut, die der Autor aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln gelungen reflektiert und verortet. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Diks scharfsichtige Reflexion seiner eigenen Position im Feld (S. 22-29) sowie seiner eigenen theoretischen und ontologischen Vorannahmen (S. 227-254). Eine solche „Offenlegung des Datengewinnungsprozesses, die den Forscher/die Forscherin (als ‚Instrumente‘ der Datenerhebung) einschließt“ (Bräunlein 2010, 519, Anm. 24) kommt in den Sozial- und Kulturwissenschaften nach wie vor oft zu kurz, wie u.a. Peter Bräunlein (vgl. ebd.) und James S. Bielo (2009, 30) bemerken. Die vorliegende Arbeit stellt hier zweifelsohne eine gelungene Ausnahme dar. Gleiches gilt für die Reflektion der ethischen Dimension wissenschaftlicher Theoriebildung und -diskussion, die der Autor vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung als Angehöriger verschiedener Minoritäten vis-à-vis unterschiedlicher Mehrheitsgesellschaften thematisiert (vgl. S. 227).

An Schlagkraft und analytischer Tiefe hätte die Arbeit allerdings noch gewonnen, hätte Dik seine ethnographischen Beobachtungen mit aktuellen Ansätzen aus dem mittlerweile etablierten Forschungsfeld der Material Religion zusammengebracht (vgl. z.B. Meyer u.a. 2010; Mohr 2010; Prohl 2012). Auch hier steht - neben der grundsätzlichen Frage, wie Religion sich auf materialer Ebene ereignet (vgl. Meyer u.a. 2010, 209; Prohl 2012, 377) - die Frage im Mittelpunkt, wie ein angenommenes Transzendentes durch vielfältige Prozesse der Medialisierung sinnlich wahrnehmbar und dadurch als evident erfahren wird. Man denke hier beispielsweise an Inken Prohls Beobachtung, dass es die sinnlich wahrnehmbare materiale und performative Dimension religiöser Praktiken ist, die die Rede von transzendenten Wirklichkeiten für religiöse Akteurinnen und Akteure mit einer „Aura der Faktizität“ (Geertz 1987, 48) auflädt, indem die „Sinne als Gewähr von Sinn“ fungieren (Prohl 2004, 293). Auch Birgit Meyers Konzept der „ästhetischen Formationen“ (oder auch sensational forms) an der Schnittstelle von medialisierter Transzendenzerfahrung und Gemeinschaftsbildung unter dem Eindruck asymmetrischer Machtverhältnisse hätte Diks Analyse noch geschärft (vgl. z.B. Meyer 2009). Geringfügige Mängel dieser Art sind zweifelsohne der besonderen disziplinären, geographischen und biographischen Situiertheit allen wissenschaftlichen Arbeitens geschuldet. Vor dem Hintergrund des besonderen interdisziplinären Anspruchs der Arbeit ist diese Auslassung jedoch bedauerlich.

Ungeachtet dessen stellt die Arbeit eine äußerst gelungene Untersuchung urbaner gelebter Religiosität dar und leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung pfingstlich-charismatischer Christentümer im Nahen Osten als einem in der gegenwärtigen Pentekostalismusforschung nach wie vor unterrepräsentierten Forschungsbereich.

ISBN: 978-3-8471-0719-4
296 Seiten (gebunden) 
45,00 €
Weitere Verlagsinformationen...

Referenzen

Bielo, James S. Words Upon the Word: An Ethnography of Evangelical Group Bible Study. New York: New York University Press, 2009.

Bräunlein, Peter J. Passion/Pasyon: Rituale des Schmerzes im Europäischen und Philippinischen Christentum. München, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2010.

Geertz, Clifford. Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen Kultureller Systeme. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 696. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1987.

Meyer, Birgit. „From Imagined Communities to Aesthetic Formations: Religious Mediations, Sensational Forms, and Styles of Binding.“ In Aesthetic Formations: Media, Religion, and the Senses, hrsg. von Brigit Meyer, S. 1–28. Religion/Culture/Critique. New York: Palgrave Macmillan, 2009.

Meyer, Birgit, David Morgan, Crispin Paine und S. Brent Plate. „The Origin and Mission of Material Religion.“ Religion 40, Nr. 3 (2010): 207–11.

Mohr, Hubert. „Material Religion/Religious Aesthetics: A Research Program.“ Material Religion 6, Nr. 2 (2010): 240–42.

Prohl, Inken. „Materiale Religion.“ In Religionswissenschaft, hrsg. von Michael Stausberg, 379–392. De Gruyter Studium. Berlin, Boston: De Gruyter, 2012.

Prohl, Inken. „Zur Methodischen Umsetzung Religionsästhetischer Fragestellungen am Beispiel Zen-Buddhistischer Praktiken in Deutschland.“ Münchner Theologische Zeitschrift 55 (2004): 291–99.

Zuletzt verändert: 03.05.2018 11:38