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REZENSION: Daniel Frei, Die Pädagogik der Bekehrung. Sozialisation in chilenischen Pfingstkirchen. Münster: Lit, 2011.

von Monika Bossung-Winkler

Die chilenische Pfingstbewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Methodismus entstand, war als autochthon lateinamerikanischer Pentekostalismus schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Zur Erklärung seines Wachstums in der chilenischen Unterschicht, beschreitet Daniel Frei, einen eigenen Weg: Als Lehrer und Theologe untersucht er die pfingstlerische Gemeindepädagogik als Sozialisationprozess, der mit der Bekehrung beginnt und dessen Ziel es ist, das neue Mitglied in die bestehende Gemeinschaft zu integrieren.

Als Dozent für Praktische Theologie an der Facultad Evangélica de Teología von Concepción im Auftrag der Basler Mission 21 begegnete der Schweizer Frei erstmals der faszinierenden Welt der Pfingstkirchen. Seine systematische Forschung mit teilnehmenden Beobachtungen und qualitativen Interviews konzentrierte sich auf die Iglesia Evangélica Pentecostal, der ältesten chilenischen Pfingstkirche, in der die Erweckungen von 1909 in Valparaíso noch heute tradiert werden.

Frei erklärt zunächst in einem geschichtlichen Rückblick Entstehung und Wachstum der chilenischen Pfingstbewegung im Kontext der mestizischen Unterschicht und der wachsenden sozialen Desintegration während der Weltwirtschaftkrise der 30er Jahre und seit der Einführung des Neoliberalismus ab 1973. Religiös prägend sind für ihn dabei der Methodismus und die Heiligungsbewegung sowie die katholische Volksreligiosität, aus deren Bild- und Symbolsprache der Pentekostalismus schöpft. Frei erkennt sowohl in der Volksreligiosität als auch in der Pfingstbewegung "ein soziopolitisches Projekt, in dem das Volk als eine organische Einheit zum Agenten für den sozialen Wandel mittels religiöser Formen wird."(S. 146) Dabei setzt sich Frei mit den Ergebnissen der wichtigsten religionssoziologischen Forschungen über die chilenische Pfingstbewegung auseinander: „Diesen Arbeiten ist meines Erachtens gemeinsam, dass sie das kreative Protestpotenzial des Pentekostalismus betonen und seine Fähigkeit, die Würde des Individuums in der Situation der Ausgrenzung und Unterdrückung herstellen." (S. 145)

Im zweiten, zentralen Teil stellt Frei die Ergebnisse seiner eigenen Forschung in der Iglesia Evangélica Pentecostal dar. Er konzentriert sich dabei zunächst auf ihre ekklesialen Profile: Zeugnisgemeinschaft, Gemeinschaft als Familie, affektive und therapeutische Gemeinschaft, dynamische Gemeinschaft in permanenter Aktion, migrierende Gemeinschaft, mystagogische Gemeinschaft, Lerngemeinschaft. Dabei ist seine Grundthese, dass "Bestand und Funktionieren der pfingstlerischen Gemeinschaft von der Fähigkeit des einzelnen Mitglieds abhängen, sich der Gemeinschaft einzuordnen." (S. 377) Im Dienste dieser Sozialisation stehen sowohl planvolle erzieherische Maßnahmen als auch unreflektiertes Lernen anhand von Vorbildern, wie Frei in seinem dritten Teil über pfingstlerische Gemeindepädagogik ausführt. Diese findet zwar nicht in einem formalen Rahmen statt, folgt jedoch einem informellen, oral tradierten Curriculum, in das die ganze Gemeinde eingebunden ist.

Für Frei sind die chilenischen Pfingstgemeinden durch deutliche Ambivalenzen geprägt, da sie einerseits traditionelle hierarchische, machistische und patriarchale Strukturen reproduzieren, andererseits innerhalb der Gemeinde ein Gegenmodell zu einer als ungerecht empfundenen Gesellschaft vorleben: der unmittelbare Zugang zu Gott wird sozialisiert, die Verkündigung in Form von Zeugnissen und charismatischen Mitteilungen werden jedoch innerhalb der klaren Strukturen des Gottesdienstes kontrolliert; der Pastor leitet seine Gemeinde autoritär, ist jedoch von der Anerkennung durch ihre Mitglieder abhängig; charismatisch begabte Prophetinnen bilden einen Gegenpol zum Pastorenamt, das weiterhin Männer vorbehalten bleibt; Pfingstler lehnen die Gesellschaft als sündige "Welt" ab, finden in ihrer Gemeinde jedoch konkrete Hilfe zur Bewältigung von Alltagsproblemen und erreichen durch einen "ethisch korrekten" Lebenswandel oft einen sozialen Aufstieg.

Die große Leistung der Arbeit Freis besteht darin, scheinbare Widersprüche innerhalb des pfingstlerischen Selbstverständnisses als dialektische Prozesse zu deuten, die zu einem Emanzipationsprozess der Armen beitragen. Mit seinem Fokus auf die Gemeindepädagogik als Sozialisationsprozess stellt er die Bedeutung der Gemeinschaft für die Persönlichkeitsbildung des Mitglieds dar, aber auch die Probleme, die durch den hohen Anpassungsdruck für das Individuum entstehen.

Nur angedeutet werden in der Arbeit die Veränderungen innerhalb der Pfingstbewegung durch den wachsenden Einfluss des Neopentekostalismus, für den Gemeindebildung eine untergeordnete Rolle spielt. Seine Wirkung auf die Pfingstkirchen und deren Beitrag zu einer Emanzipation der Armen nicht nur in Chile, sondern in ganz Lateinamerika ist eine der Fragestellungen, welche die Pfingstkirchenforschung in den nächsten Jahren in den nächsten Jahren verstärkt bewegen wird.

ISBN:978-3-643-80083-1
456 Seiten
Preis: €31,90
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Zuletzt verändert: 03.12.2013 22:23