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REZENSION: Frederik Elwert, Martin Radermacher und Jens Schlamelcher (Hgg.), Handbuch Evangelikalismus. Bielefeld: Transcript 2017.

von Anna Maria Kirchner

Mit dem Handbuch Evangelikalismus schaffen die am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum ansässigen Herausgeber Frederik Elwert, Martin Radermacher und Jens Schlamelcher das erste deutschsprachige Überblickswerk zum Thema Evangelikalismus. Das Handbuch setzt sich zum Ziel, „ein facettenreiches und umfassendes [...] Gesamtbild des Phänomens ‚Evangelikalismus‘“ (S. 12) zu zeichnen. Die historische, globale und soziale Vielgestaltigkeit des Evangelikalismus wird von 25 Autorinnen und Autoren in 27 Einzelbeiträgen beleuchtet. Gerahmt von einem Eingangsteil mit Klärungsversuchen zum Evangelikalismus-Begriff und einem Ausblick zum Thema Evangelikalismus zwischen Moderne und Postmoderne stehen die zwei Hauptteile.

Der erste Hauptteil untersucht den Gegenstand anhand eines „historisch-genetischen“ (S. 18) Zugangs. Die in diesem Abschnitt versammelten Aufsätze geben zentrale Einblicke in die Geschichte des Evangelikalismus vor 1950 in Europa und den USA sowie zur Entwicklung von Evangelikalismus nach 1950 weltweit, in Nordamerika, Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa. In den jeweiligen Beiträgen werden zudem wichtige Verhältnisbestimmungen zu anderen Strömungen vorgenommen, allen voran der Pfingstbewegung (Nordamerika, globale Ausbreitung, Lateinamerika, Afrika) oder auch zum Neofundamentalismus (Nordamerika).

Der zweite Hauptteil bildet durch „komparativ-analytische Zugänge“ (S. 189ff.) übergreifende Themen ab. Die drei Unterkapitel wenden sich Glaube und Praxis des Evangelikalismus, Sozialformen des Evangelikalismus und Evangelikalismus im Kontext gesellschaftlicher Funktionsbereiche zu. Das Themenfeld ist vielfältig, auf je ein Beitrag aus jedem Unterkapitel soll exemplarisch verwiesen werden: Verena Hoberg beschäftigt sich in Evangelikale Lebensführung und Alltagsführung mit Bekehrung als Entscheidung für und Hinwendung zu Jesus, evangelikalem Eheverständnis und Sexualität. Thomas Kern und Insa Pruisken nähern sich dem Evangelikalismus von der soziologischen Bewegungsforschung her. Unter der Überschrift Evangelikalismus als Bewegung widmen sie sich vier Bereichen kollektiver Mobilisierungsprozesse: der Herstellung kollektiver Identität, Ressourcenmobilisierung, Framing im Sinne von Produktion von Deutungsmustern und Emotionen. In seinem Beitrag Evangelikalismus und Sport beschreibt Martin Radermacher unterschiedliche Gruppierungen wie „YMCA“ oder „Athletes in Action“ und geht der Frage nach, in welchem Verhältnis aus evangelikaler Perspektive Sport und Religion stehen.

Damit bietet das Handbuch eine große Breite an theoretisch-methodischen Zugängen, denen auch unterschiedliche Definitionen von Evangelikalismus zu Grunde liegen. So versteht beispielsweise Esther Berg in ihrem Beitrag Evangelikalismus in Asien „‚Evangelikalismus’ als ein kirchen- und konfessionsübergreifendes ‚kontingentes diskursives Netzwerk’“ (S. 160), während Jens Schlamelcher in seinem Beitrag Sozialgestalten im evangelikalen Spektrum Evangelikalismus als „konservatives bzw. antiliberales protestantisches Christentum jenseits denominationaler Verfassung“ (S. 243) versteht. Zugleich lässt es aber die Frage aufkommen: Was berechtigt dazu, von einem einheitlichen Gegenstand zu sprechen? Diese Frage wird in der Einleitung von den Herausgebern selbst thematisiert. Ihre Diskussion zum Evangelikalismus-Begriff mündet dann allerdings in einer Kompromisslösung, die den Anspruch erhebt, den Evangelikalismus in „systematischer“ und „genealogischer“ Weise zu verstehen (S. 16): Evangelikalismus sei ein Phänomen, dem „Familienähnlichkeiten im Frömmigkeitstypus zugrunde“ liegen und das „historisch in der radikalen Reformation (z. B. Täuferbewegung) und dann im Pietismus ansetzt“ (S. 16). Historische und systematische Zugänge werden dabei allerdings nicht miteinander ins Verhältnis gesetzt oder gar ins Gespräch gebracht. Sie bleiben nur unvermittelt nebeneinander stehen.

So findet beispielsweise keine ausführliche Diskussion zur Periodisierung des historischen Teils statt. Unklar ist, wieso das Jahr 1950 eine Zäsur darstellen soll und wieso für die Zeit vor 1950 nur Nordamerika und Europa ein eigener Beitrag gewidmet wird. Daran schließt sich die Frage an, in welcher Beziehung diese Periodisierung zu den „Eigenschaften“ steht, die im Komparativen Teil zum Tragen kommen, der wiederum weitgehend „systematische[n]“ Definitionen folgt (S. 15). Ferner bleibt unklar, was das Handbuch – oder zumindest der Herausgeberkreis – unter „genealogisch“ und/oder „genetisch“ versteht  (beide Begriffe werden synonym verwendet, vgl. S. 15-16). Die Wittgenstein’sche Kategorie der „Familienähnlichkeiten“, die bei der Evangelikalismus-Definition in der Einleitung in Anspruch genommen wird, deutet darauf hin, dass „genealogisch“ hier nicht im Sinne Foucaults verstanden wird (vgl. Foucault, M. „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“; in Von der Subversion des Wissens, Walter Seitter, Hg., S. 88-100, Frankfurt 1978). Dagegen hätte gerade eine Darstellung der Bedingungen, die es ermöglichen, „Ähnlichkeiten“ bzw. Kontinuitäten zu postulieren (die dann als „Familienähnlichkeiten“ theoretisiert werden) sich angeboten, die Komplexität des Diskurses um Evangelikalismus einzuholen: Sie hätte es ermöglicht, herauszuarbeiten, auf welche Weise Akteure aus Wissenschaft, Medien und evangelikaler Basis selbst miteinander verflochten sind und welche Auswirkungen unterschiedliche Verständnisse auf die Konstitution des Forschungsgegenstands haben. Dem Anspruch der Herausgeber, mit dem Handbuch eine theoretische und methodische Breite abzubilden, wäre dies keineswegs zuwidergelaufen. Im Gegenteil, die jeweiligen Beiträge hätten sich konkret auf eine derartiges Einleitungskapitel rückbeziehen können – gegebenfalls kritisch.

Ungeachtet dieser Rückfragen an die Konzeptualisierung des Handbuchs liefert es einen unentbehrlichen und längst überfälligen Überblick zum Evangelikalismus und schließt eine eklatante Lücke in der deutschsprachigen Forschung. Die Kapitel sind kompakt und in sich schlüssig geschrieben, so dass auch ohne Sachregister ein einfacher und unmittelbarer Zugang zu den Inhalten möglich ist. Außerdem enthält es Angaben zu weiterführender Literatur, die in eigens dafür vorgesehenen „grauen Kästchen“ die Einzelbeiträge abrunden. Damit bildet das Handbuch einen zentralen Ausgangs- und Referenzpunkt für die weitere Forschung. Es ist unbedingt lesenswert.

ISBN: 978-3-8376-3201-9 (Hardcover)
452 Seiten
Preis:  €39,99
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Zuletzt verändert: 22.09.2017 22:51