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REZENSION: Eva Baumann-Neuhaus, Kommunikation und Erfahrung. Aspekte religiöser Tradierung am Beispiel der evangelikal-charismatischen Initiative "Alphalive". Marburg: Diagonal-Verlag, 2008. (Religionswissenschaftliche Reihe; 27)

von Eva Tolksdorf

Die religionssoziologisch-ethnografische Studie von B-M. wurde 2007 als religionswissenschaftliche Dissertation bei Prof. Dr. Dorothea Lüddeckens an der Uni Zürich eingereicht. Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am katholischen „Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut“ (SPI) in St. Gallen, Dozentin am Religionswissenschaftlichen Seminar der Uni Zürich und Sekretärin des Kirchlichen Frauenrats der Schweizerischen Bischofskonferenz.

Die Fallstudie behandelt den global verbreiteten und im deutschsprachigen Raum in diversen Landes- und Freikirchen angebotenen Alpha-Kurs, ein zehnwöchiger einführender Glaubenskurs mit evangelistisch-charismatischer Ausrichtung. B-M. untersucht den Kurs im Kontext einer reformierten Landeskirche in der Schweiz, der sich Alphalive nennt. Vor dem Hintergrund religionssoziologischer Debatten um die Säkularisierung, Transformation und Rückkehr der Religion fragt sie nach dem religiösen Wandel und seiner Sozialformen in der Gegenwartsgesellschaft. Dabei werden (1) spätmoderne christliche Tradierungsprozesse und Vermittlungsweisen in landeskirchlichen Strukturen und die (2) subjektiven Verstehens- und Selbstpositionierungsprozesse der Teilnehmenden analysiert (27).

B-M. verfolgt dabei wissenssoziologisch-konstruktivistisch orientierte Fragen: Wie wird durch religiöse Vertreter eine religiöse Wirklichkeit im Kurs konstruiert? Wie wird der Zielgruppe der kaum religiös sozialisierten Individuen der Mittelschicht christliche Religiosität vermittelt? Wie wird das vermittelte religiöse Wissen von den Teilnehmenden angeeignet, modifiziert und in den Alltag integriert? Die Studie verpflichtet sich der „dichten Beschreibung“ und grenzt sich mit dem religionswissenschaftlichen Ideal auf „Wertneutralität“ gegenüber kirchensoziologisch motivierten Evaluationen ab (18). Der empirische Teil basiert auf der mittels der Grounded Theory ausgewerteten (a) Kurs-Konzeptmaterialien, (b) der protokollierten Teilnehmenden Beobachtung von Schulungskonferenzen und eines Kursdurchgangs sowie auf (c) neun leitfadengestützte Interviews mit Teilnehmenden, die ein halbes Jahr nach dem Kurs durchgeführt wurden. Als Vergleichsbeispiel wird ein Alphalive-Kurs in einem freikirchlichen Setting der FEG hinzugezogen, das weniger charismatisch dafür stärker evangelikal ausgerichtet ist.

Nach Vorwort und Einleitung (11-48) gliedert sich die Arbeit in fünf Hauptteile, in denen (A) der Alphalive-Kurs mit seiner Geschichte, Methodik und Programmatik beschrieben (49-74), (B) die zentrale Kategorie der Erfahrung als Topos zur Plausibilisierung und Legitimierung von religiöser Wirklichkeit im Kurs vorgestellt (75-84), (C) die Rede von der religiösen Erfahrung im Kontext von Didaktik und Religionsgeschichte der Erneuerungsbewegungen sowie im wissenschaftsgeschichtlichen Diskurs der Theologie, Religionsphänomenologie, Religionssoziologie und Kulturanthropologie beleuchtet (85-168), (D) die (Re-)Konstruktion von „Erfahrbarkeit“ der „transzendenten Wirklichkeiten“ bei den Anbietenden und den Teilnehmenden betrachtet (169-315) und (E) zusammenfassend der kausale Zusammenhang zwischen (a) der durch den Kurs produzierten Heterogenität und Temporalität und (b) der wachsenden religiösen Fluktuation aufgezeigt wird (317-332).

B-M. stellt Alphalive als rezente marktorientierte Religionsform dar, die im Zuge von Ökonomisierung zur Standardisierung religiöser Vorstellungen und Praktiken tendiert und gleichzeitig kundenorientiert und flexibel auf die Bedürfnisse und Bedingungen vor Ort ausgerichtet ist (58). Die durch die Kursdesigner produzierte pluralisierte und subjektzentrierte Kommunikationskultur grenzt B-M. dabei von den direktiven Vorgehensweisen klassischer Evangelisation ab (86). Die Methodik der „discussion and exploration“ beinhaltet Inklusions- und Enkulturationsstrategien, die die Sinnsuchenden zur „frame extension“ animieren sollen, also experimentell über den bestehenden religiösen Wissens- und Erfahrungshorizont hinaus zu denken und handeln (196). Die Individuen benötigen laut B-M. ständig Bestätigung ihrer subjektiven Wirklichkeit durch die religiöse Gemeinschaft bzw. durch „signifikant Andere“ (272), um ihren neuen Glauben aufrecht zu erhalten. In seiner Form als Temporärgemeinschaft gelinge es dem Kurs nicht, bei den Teilnehmenden eine andauernde Verbindlichkeit gegenüber der Gemeinde zu schaffen (299). Die religiöse Erfahrung diene als „Wirklichkeitskatalysator“ und „Vergewisserungsinstrument“ und trage zur Individualisierung, Privatisierung, Pluralisierung, aber auch zur Temporalität und Fluktuation der christlichen Religiositätsformen bei (318).

Ertragreich ist die Darstellung der biografischen Relativierungs- und Distanzierungsstrategien der meisten Teilnehmenden bezüglich der „Lebensübergabe“ (Bekehrung). Zur Wahrung der eigenen religiösen Autonomie wird die „Lebensübergabe“ nur als temporär gültig gedeutet (306). B-M. zeigt das bestehende Spannungsfeld zwischen den Interessen (a) der einbindenden Kirche mit Normierungspotential (religiöse Autorität) und (b) der Individuen, „die sich Verpflichtung und Selbstbindung je individuell und situativ auferlegen“ bzw. sich dieser entziehen (religiöse Autonomie)(329). Neben den vielschichtigen Ergebnissen der Studie, die leserfreundlich, differenziert und (wissenschafts-)theoretisch reflektiert präsentiert werden, wird der Kurs zum Schluss trotz anderer Zielsetzung evaluiert: So konstatiert B-M. eine Diskrepanz zwischen der „langfristig verfehlten Zielsetzung des Alphalive-Kurses, Gemeindewachstum zu generieren, und seinen immer weiter ansteigenden TeilnehmerInnen-Zahlen“ (332). Dabei schwingen leider implizit normative Werturteile mit: Die Tendenz zur Individualisierung, Privatisierung und Unverbindlichkeit von christlichen Glaubensformen wird als Problem und Misserfolg dargestellt, was einer Lösung bedarf (wogegen dem freikirchlichen Setting eine erfolgreiche Integration seiner Teilnehmenden zugesprochen wird). Zwar formuliert B-M. keine expliziten Lösungsansätze für die Gemeinde, jedoch suggeriert sie im Klappentext, dass nach Kursende die Glaubenserfahrungen in einer Gemeinschaft „aufgefangen“ werden müssen. Damit stellt sich B-M. implizit auf die Interessenseite der Kirche, statt die Ergebnisse der Studie ‚stehen zu lassen‘. Zudem bezieht sie sich auf Stephan Hunts spekulative Prognose, die besagt, dass charismatische Bewegungen sich aufgrund ihrer spätmodernen Herangehensweise bald selbst abschaffen könnte und es daraufhin zu einer Rückkehr zu traditionellen Religionsformen kommen könnte (327). Diese normativen und suggestiven Aussagen schmälern leider die Religionswissenschaftlichkeit der sonst hervorragend ausgearbeiteten und empfehlenswerten Studie.

ISBN:978-3-939346-08-1
346 Seiten
Preis: 30,00€
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Zuletzt verändert: 29.07.2012 22:39