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REZENSION: Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2007 (Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese; 2)

von Roswith Gerloff

Werner Kahls Jesus als Lebensretter ist meines Wissens der erste Versuch eines deutschen Neutestamentlers, eine ökumenisch-interkulturelle Hermeneutik vorzulegen, und zwar aus der Perspektive Afrikas, in diesem Falle Westafrikas. Ziel seiner Monographie ist es, "Sensibilität für in neutestamentlichen Schriften vorausgesetzte Plausibilitätsannahmen" zu ermöglichen, "die dem westlichen Bibelleser, der den Bibeltext innerhalb eines modernen Referenzsystems rezipiert, verschlossen bleiben."

Solche "neuen Horizonte" helfen die Diastase sowohl zwischen unterschiedlichen, nämlich afrikanischen und westlichen Weltbildern, als auch akademischen und populären Bibellesern zu überwinden und auf Interpretationen aufmerksam machen, die dem monokulturellen Zugang zur Bibel entgehen.

Afrika repräsentiert dabei eine im Süden der Erde rapide wachsende charismatische Christenheit, die seit den 1980er Jahren neue Formen von christlichem Glauben entwickelt und vom Evangelium her Antworten zu geben versucht auf Ohnmacht, gesellschaftliche Instabilität, kulturelle Widersprüche, Armut, Ausgrenzung, Epidemien und Gewalt.

 Gefragt sind exegetische Arbeit an der Bibel unter Berücksichtigung der ethischen Perspektive, das Bewusstwerden globaler Zusammenhänge und Kommunikationsstrukturen, sowie interdisziplinäre - etwa ethnologische und kulturanthropologische - Forschungsansätze, wie sie der nigerianische Bibelwissenschaftler J. S. Ukpong seit Beginn der 1990er Jahre in seiner "Inkulturationshermeneutik'' vorgelegt hat. Von einer rein diachronen Interpretationsweise bewegt sich der Fokus auf ein synchrones Interpretationsverfahren zu, das den Text in seiner Endgestalt würdigt und dem Lektürekontext, gegenwärtig wie textgeschichtlich, den Vorrang einräumt.

 

Der Autor gibt uns einen exzellenten Abriss afrikanischer exegetischer Perspektiven, die, teilweise unbemerkt, seit den 1990er Jahren Partner der internationalen Bibelwissenschaft geworden sind: Ein Beispiel ist das "Reading-with"-Projekt von Gerald West und Musa Dube, das den Austausch von Einsichten geschulter Akademiker mit denen von 'grassroots people' praktiziert. Die Gestalt Jesu wird so europäischer Gefangenschaft entrissen, und die 'Neutralität' westlicher Exegese, einschließlich der historisch-kritischen Methode, hinterfragt bzw. der eigenen Kontextualität überführt. "Das Fremde herauszuarbeiten, es stehen zu lassen, auszuhalten und als Anfrage ernst zu nehmen, ohne es durch sachfremde Kategorisierungen zu verzerren und zu vereinnahmen, darin besteht die Herausforderung nicht nur für die Altertumswissenschaften, sondern im besonderen, da theologisch relevant, für die neutestamentliche Wissenschaft." Dies impliziert eine Abkehr sowohl von einem geschichtsphilosophisch begründeten Eurozentrismus als auch von der Degradierung afrikanischer Weltbilder.

 Zentral für Kahls Analysen in Westafrika sind der Stellenwert des christlichen Glaubens als konkreter Hilfe zur Lebensbewältigung und der Bibel als ganzheitlicher Quelle solcher Lebensorientierung. Die Attraktivität des Evangeliums besteht darin, durch Jesus Zugang "zur göttlichen, anti-dämonisch wirkenden Vollmacht" und zu einem gelingenden Leben, einschließlich physischer Heilung und materiellen Überflusses, zu gewinnen. Anders als in abstrakten Entwürfen, liegt hier eine erfahrungsbezogene Christologie vor, die in Jesus den 'Lebensretter' (Agyenkwa) erlebt, der konkret lebensbedrohende Mächte bezwingt und so die Nähe Gottes in gegenwärtigen Lebensbezügen bewirkt.

 

Begründet ist die unmittelbare Erfahrung im traditionellen Weltbild, oder nach Kahl, in einer "Enzyklopädie" (innerhalb derer Sinn überhaupt erst konstituiert wird), welche die 'Spirit World', d.h. das Verwobensein alles Seienden in Geistermächte, voraussetzt und somit eine unmittelbare Affinität zum Weltbild der Frühchristenheit, des Neuen Testaments und der mediterranen Antike aufweist. Die Verheißung des Lebens in Fülle,

Quelle afrikanischer traditioneller Religion und Kosmologie, dient als hermeneutischer Schlüssel: Gerade im kosmischen Konflikt zwischen Gott und den Dämonen, so der Autor, überlappen sich biblische Überlieferung und afrikanische Kultur. Lebensrettung als gegenwärtige spirituelle wie körperliche Erfahrung, und die "doppelte Gleichzeitigkeit" zwischen den biblischen Schriften und den frühchristlichen Adressaten und heutigen afrikanischen Lesern widersprechen einer westlichen Mission, die, einhergehend mit kolonialer Expansion, einst Geisterglauben und afrikanische Riten als 'Teufelsdienst' begriff.

 

Aufschlussreich sind Kahls Ausführungen zur Beurteilung des Entmythologisierungsprogramms Bultmanns und eines angemessenen Wunderverständnisses, sowie seine kritische Sicht der historisch-kritischen Methode einschließlich der Rechtfertigungslehre als unzulässiger Engführung hermeneutischen Verstehens.

Bei den Schaubildern vermisse ich unter der Rubrik "Wirklichkeitsverständnis in Antike und Afrika" den Verweis auf Paul Hieberts dreifache Kategorisierung von Immanenz und Transzendenz, die zwischen der empirischen Welt und den Aussagen von Theologie und Religion die 'excluded middle level' entdeckt, die ihm als westlichen Forscher lange die Antwort auf Realitäten in der Zweidrittelwelt verschloss.

Kritisch betrachtet, entspricht die Gestaltung des Buches nicht dem Ziel einer Ermutigung zur "Lektüregemeinschaft" zwischen Experten und Laien: Um afrikanische Bibelinterpretation auch 'normalen' Lesern zugänglich zu machen, hätte es attraktiver Überschriften statt des komplizierten (akademischen) Nummernsystems bedurft.

Wenn schon nicht im Text, so hätte ein Glossar fremde wissenschaftliche (z.B. ethnologische, kulturanthropologische oder literaturwissenschaftliche) Begriffe wie 'etisch' und 'emisch', 'semiotisch', 'diachron' und 'synchron' erläutern müssen. Fremdsprachige (besonders griechische) Zitate hätten zumindest summarisch ins Deutsche übersetzt werden können. Darüber hinaus - um zu einer Lektüregemeinschaft nicht nur in Ghana, sondern auch in Deutschland zu verhelfen - wäre es gut gewesen, sich nicht nur auf Quellen zu berufen, die sich verschriftlichen lassen, sondern aus eigener lebendiger Erfahrung vom Austausch mit afrikanischen Pastoren und Gemeindemitgliedern sowohl in Accra als auch in Duisburg oder Hamburg zu erzählen. Ein theologisches Fachbuch allein führt nicht zum Dialog zwischen konträren Weltbildern.

 

Inhaltlich fallen die Beschreibungen von Theologien einflussreicher charismatischer Kirchen in Ghana zurück im Vergleich mit der gelungenen Zusammenfassung akademischer Interpretationen von Themen wie Evangelium und Kultur, Christologie, 'Leben in Fülle' und dessen Applikationen:

Hier hätte ich mir eine vergleichende Analyse gewünscht, die - gemäß den Kriterien von "Textadäquatheit" und "Textkohäsion" - die Gefahren von "Dekontextualisierung", "Re-kontextualisierung" oder gar "Narkotisierung" von Texten konkret zur Sprache bringt und somit kritisch nach der "Plausibilität" und "Relevanz" für die gegenwärtige westafrikanische Gesellschaft fragt. Anstelle eines Nebeneinanders, hätte - trotz charismatischer Gemeinsamkeiten - ein Vergleich von Duncan-Williams individualistischer und Mensa Otabils kommunaler Theologie die konträren Gemeinde- und Glaubenskonzepte zwischen den 'Christian Action Ministries' und der 'International Central Gospel Church' beleuchten können. Otabil hat seinen entwicklungsbezogenen Ansatz nicht zuletzt durch seinen intensiven Austausch mit radikalen afroamerikanischen Pfingsttheologen wie Leonard Lovett, dem Altmeister der schwarzen pentekostalen Befreiungstheologie, bekräftigt. Dahinter steht beim Autor ein Mangel an politischem und ökonomischen Interesse, das somit entgegen der eigenen Intention einseitigen Interpretationen verfällt. Angesichts der verheerenden sozio-politischen und ökonomischen Lage afrikanischer Länder und des Kampfes gegen die Ungeister von Despotie, Korruption, Verelendung, Vertreibung und Brutalität ist solches schwer zu einzuordnen. Obwohl Kahl sowohl I.J. Mosala zitiert, der im Frühchristentum vom Erleben der Nähe Gottes in konkreten Lebensbezügen spricht, die es nach ökonomischen, politischen und kulturellen Gegebenheiten auszuleuchten gelte, und sich außerdem auf Eric Anum beruft, der in Orientierung an eigenen Ressourcen den Entwurf einer sozio-ökonomisch effektiven Theologie fordert, folgt er solchen Impulsen nicht: Wie sonst ist seine Einschätzung zu verstehen, dass sich aus dem Neuen Testament kein politisches Handeln ableiten ließe und Religion nur eine gesellschaftsstabilisierende Funktion habe?

 

E. Kingsley Larbi, Kenner der Pfingstbewegung in Ghana, beruft sich auf ein Heilsverständnis, das unmittelbar die gegenwärtige sozio-ökonomische und religiöse Erfahrung westafrikanischer Christen anspricht. Es gibt charismatische Gemeinden, nicht nur in Südafrika, die sich sowohl im spirituellen 'antidämonischen' Bereich als auch praktisch sozial engagieren und die politische Entwicklung ihrer Länder verfolgen. Keiner kann der Frage ausweichen, wie trotz des wachsenden charismatischen Einflusses auf die Bevölkerung die strukturellen Probleme des heutigen Afrika kaum gemeistert werden. Ogbu Kalu stellt deshalb die Frage nach einer politischen Theologie und Praxis afrikanischer Pfingstler und Charismatiker in den Mittelpunkt: "Es ist der Anspruch pentekostalen Glaubens und der Auftrag pentekostaler Predigt, darauf zu bestehen, dass die Bibel das Material liefert, aus dem eine alternativ konstruierte Welt real ersonnen werden kann."(Power, Poverty and Prayer, 2000).

Unkenntnis solcher Ansätze auch in der afrikanischen (z.B. der karibischen) Diaspora spiegelt sich – ich spreche hier pro domo – in der Fußnote (S. 415), die mir selber ein "romantisierendes" Christusbild unterstellt: Jesus als 'Deliverer of Humanity' ist kein von den AICs (African Instituted Churches) artikulierter Begriff, sondern stammt aus James H. Cones bahnbrechender Analyse der Spirituals als befreiungstheologischen Zeugnissen. Hier zeigt sich, letztendlich im Gefolge charismatischer Megakirchen, Kahls Abneigung gegen ATR (African Traditional Religion) und AICs, denen als "Manifestationen des Bösen" Utilitätsdenken unterstellt wird. Die AICs sind weltweit nicht am Absterben, sondern erreichen nur andere als urbane Bereiche und 'globalisieren' sich ebenfalls. Nützlich wäre hier ein Blick in die Dissertation von Jerisdan Jehu-Appiah über "Westafrikanische Theologien" in Großbritannien gewesen.

Zu einer echten Lektüregemeinschaft zwischen zutiefst unterschiedlichen kontextualen Zugängen und Interpretationen, nicht nur zwischen Europa und Afrika, ist noch ein weiter Weg.

Zuletzt verändert: 28.09.2010 22:21