Sie sind hier: Startseite Members webmaster REZENSION: Johannes Ries, Welten Wanderer – Über die kulturelle Souveränität siebenbürgischer Zigeuner und den Einfluß des Pfingstchristentums. Würzburg: Ergon Verlag, 2007.

Artikelaktionen

REZENSION: Johannes Ries, Welten Wanderer – Über die kulturelle Souveränität siebenbürgischer Zigeuner und den Einfluß des Pfingstchristentums. Würzburg: Ergon Verlag, 2007.

von Sebastian Schüler

Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Johannes Ries legt mit seiner umfangreichen Dissertation aus dem Jahr 2006 eine vielschichtige Studie vor, die das religiöse Spannungsverhältnis von zwei Zigeunergruppen in Siebenbürgen beschreibt, das sich zwischen ethnischen Diskursen, transnationalem Pentekostalismus und den dynamischen Aushandlungsprozessen von Gruppenidentitäten entfaltet. In seiner Analyse zeigt Ries, wie die scheinbar unvereinbaren Sinnwelten der drei zentralen Dorfgruppen von Zigeunern, Nichtzigeunern und Bekehrten sich geradezu gegenseitig konstituieren und dadurch einander bedingen.

 

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile, in denen der Leser (I) die Unterschiede der beiden Zigeunergruppen und die kulturellen Einbettungen der Diskurse um Zigeuner kennen lernt, (II) einen Einblick in die pfingstliche Zigeunermission erhält und (III) in das Spannungsfeld der divergierenden religiösen Sinneswelten eintaucht. Die Studie bietet reichhaltiges und anschauliches Material und ein breites Feld an Analysen, die gleich mehrere fachliche Interessensgruppen bedienen. In seiner Einleitung führt Ries daher in sein methodologisches Vorverständnis einer ethnologischen Tsiganologie (Die Erforschung von Geschichte, Kultur und Herkunft der Zigeuner) ein, wobei er auch die Begriffsproblematik um den Begriff ‚Zigeuner’ als einen diskursiven Gegenstand klar umreißt und als wissenschaftliche Kategorie fruchtbar macht.

 

Seine Feldforschungen führte Ries im Dorf Trabes (Siebenbürgen) durch, wo er vor allem die beiden Zigeunergruppen der Corturari und Tigani in einem größeren Kontext untersuchte. Dabei verpflichtet er sich im Anschluss an Fredrik Barth dem interaktionistischen Paradigma in der Ethnologie, das er zu einer ‚wissenssoziologischen Diskursanalyse’ erweitert. Ries fokussiert dazu vor allem die translokalen Diskurse, die sich im lokalen Kontext als diskursive Spannungsfelder manifestieren. Erst durch diesen Zugang eröffnen sich dem Leser eben jene Sinnwelten, welche die Protagonisten der Studie selbst diskursiv verhandeln und durchwandern. Die Studie ist daher keine klassische Ethnographie, die sich auf die beiden Zigeunergruppen oder das Dorf begrenzen lässt, sondern eine breitere Analyse der „interethnische[n] und religiöse[n] Dynamik, die sich zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern, bzw. zwischen Zigeunern und Pfingstlern entwickelt.“ (35)

 

Im ersten Teil führt das Buch – geradezu en passant – in die ethnologische Tsinatologie ein, indem die Unterschiede der beiden Zigeunergruppen in ihrem Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft und im Kontrast zu den Nichtzigeunern dargestellt werden. Trotz ihrer erheblichen Binnendifferenz erfahren ‚die Zigeuner’ immer noch eine gesellschaftliche Marginalisierung auch von den Großkirchen, die meist nicht über eine informelle Inklusion hinausreicht. Ethnostereotype Darstellungen von Seiten der Nichtzigeuner werden dabei von den Zigeunern in ihre Wirklichkeitskonstruktion überführt und generieren eigene Diskurskategorien.

 

Insbesondere der zweite und dritte Teil bieten aufschlussreiche Betrachtungen zur Adaption der Pfingstbewegung unter besonderer Berücksichtigung ethnischer Anpassungsstrategien durch Zigeunermission, Bekehrungsmotive und immanente theologische Deutungen. Hier wird das Spannungsfeld der unterschiedlichen Sinnwelten deutlich, zwischen denen die beiden Zigeunergruppen ihre Gruppenidentität stets neu verhandeln müssen. Gruppenidentitäten und –grenzen sind keine festen Einheiten, sondern unterliegen einer eher pragmatischen Dynamik, die eine relative Ordnung auf unterschiedlichen Ebenen durch stetige Abgrenzungsbemühungen zu anderen Zigeunergruppen generiert. Diese Binnendifferenzierungen durch meist diffamierende Heterogenisierung des Anderen erzeugen jeweils eigene Sinnwelten und Sinnprovinzen mit begrenzten Wissensbeständen, die auch der Religion einen unterschiedlichen Stellenwert einräumt. Die tendenzielle konfessionelle Assimilation der Zigeuner an die Mehrheitsgesellschaft wird mit der Bekehrung zum Pfingstchristentum durchbrochen. Die Tigani, die selbst zu Außenseitern der Zigeunerwelt degradiert werden und geradezu ‚ortlos’ zwischen den Welten umherwandern müssen, bekehren sich, während die Corturari mit ihrer Weltimmanenz und ihrem Selbstverständnis als ‚echte’ Zigeuner gegen die Mission resistent bleiben. Religiöse Zugehörigkeit, die sonst im Zigeuneralltag nur eine marginale Rolle spielt, wird für die Tigani so zu einer eigenen symbolischen Größe in der Produktion von Sinnwelten.

 

Die zum pfingstlichen Glauben bekehrten Zigeuner wachsen so zu einer dritten Sinnwelt, neben den Corturari und den Nichtzigeunern heran, wobei der neue Glaube eine integrative Funktion erfüllt, um ethnische Differenzen zu überwinden. Dabei werden ‚Sanktionsmechanismen’ wie etwa der Bruch des Exogamietabus entwickelt, um die (ethnisch) heterogenen Gruppen durch Mission in ein transethnisches Volk Gottes zu homogenisieren. Dennoch bleiben auch innerhalb der Zigeunermission Vorurteile von bekehrten Zigeunern gegenüber ‚säkularen’ Zigeunern erhalten, wobei sich das Diskursfeld leicht verändert. ‚Säkulare’ Zigeuner sind demnach nicht mehr Opfer der Gesellschaft, sondern werden zu Prototypen von Sündern stilisiert, die nur durch die Bekehrung ihrer Stigmatisierung entgehen können.

 

Die teilweise rhetorisch-deskriptiven Feldberichte erzeugen durch ihre ‚dichte Beschreibung’ Empathie beim Leser und gehen dabei über gewöhnliche ethnographische Darstellungen durch ein Maß an Subjektivität hinaus. Durch die scharfen Analysen kommt aber auch der rein wissenschaftliche Leser auf seine Kosten. Durchgehend positiv ist auch die Transparenz des Wissenschaftlers zu werten, der – immer wieder pfingstlichen Missionsbestrebungen ausgesetzt – seine eigene Rolle im Feld stets auf sympathische Weise mitreflektiert. Darüber hinaus stellt die gelungene Verschmelzung von ethnographischer Forschung mit diskursanalytischen Methoden und Theorien nicht nur für Ethnologen und Religionswissenschaftler eine hervorragende Studie dar, die empirische wie systematische Aspekte gezielt vereint.

 

 

 

Zuletzt verändert: 28.09.2010 22:23