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REZENSION: Rainer Wagner, Auf der Suche nach Erweckung. Geistliche Entwicklungen verstehen – 100 Jahre Berliner Erklärung (1909-2009), Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft, 2009

von Erich Geldbach

Das Taschenbüchlein will „dringend notwendige Aufklärung über Hintergründe und Initiatoren“ der „Berliner Erklärung“ (fortan BE) vom 15. September 1909 geben und dazu die Fragen stellen, ob die BE eine Notwendigkeit war, ob sie Segen oder Hindernis „für die Gemeinde Jesu in Deutschland“ war und ob sie heute noch ein „hilfreiches Zeugnis“ darstellt. Obwohl betont wird, dass es dem Vf. nicht um ungeistliche Härte geht (S. 13) und er keine „Kampfschrift“, sondern eine „Handreichung“ im Sinn hat (S. 14), wird eingangs kategorisch erklärt, die BE habe einen „Damm gegen die damals immer stärker werdende Gefahr eines schwärmerischen Abgleitens großer Teile der Gemeinde Jesu in Deutschland errichtet“ und habe „theologischen und seelsorgerlichen Fehlentwicklungen“ widerstanden. (S. 9f.) Dadurch sei die entstehende Pfingstbewegung in ein „Ghetto“ abgedrängt worden, aus dem sie ihre Sonderlehren nur schwer in Gemeinden „einstreuen konnte“ (S. 10). Damit sind eigentlich Zielrichtung und Maßstäbe des Büchleins auf dem Tisch. Wenn man dann noch liest, dass sich in der Pfingstbewegung „Geister, Kräfte und Phänomene“ offenbarten, „die aus okkulten Zusammenhängen und heidnischen Kulten bekannt“ sind (S. 11), ist vollends klar, wie verfahren wird. Die Relevanz der Untersuchung soll jedoch nicht nur für die damalige kirchengeschichtlichen Situation gelten, sondern ergibt sich auch durch das Aufkommen der charismatischen Bewegung, in der sich ähnliche Phänomene zeigen, die aber akzeptiert wurden, wodurch sich auch „eine Akzeptanz der Pfingstbewegung in Deutschland“ seit etwa 1967 ergab (S. 11 Anm. 5). Das habe dazu geführt, dass die Deutsche Evangelische Allianz seit 1996 und der Gnadauer Verband seit 2009 die BE „nicht mehr als pietistisches Bekenntnis“ ansehen, sondern lediglich als „zeitgebundene Aussage Einzelner“. Dadurch sei die BE „für die heutige Arbeit der Evangelikalen relativiert“ (S. 13). Hier ergibt sich natürlich die Frage, ob die BE je ein „pietistisches Bekenntnis“ war und was ein solches denn wohl sein könnte. Auf jeden Fall aber ist deutlich, wie der Vf. die Charismatische Bewegung dafür verantwortlich macht, dass deutsche Evangelikale sich nicht mehr auf die BE im Kampf gegen die Pfingstbewegung stützen können.

Nach dieser Einleitung bietet Vf. den Text der BE (S. 15-20) und geht dann weit in die Geschichte zurück. Er bietet auf wenigen Seiten den „Geistlichen Hintergrund der Christen in Deutschland bis zur Reformation“ (S. 21-30). Die allzu simple Art der Darstellung soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Zu Luther schreibt Vf.: „Nach seiner persönlichen Bekehrung von einem katholisch fanatischen Menschen des Mittelalters zu einem glaubensfrohen Gotteskind wurde er zu dem Prediger und Lehrer des Glaubens, den Gott als Werkzeug gebrauchen konnte“ (S. 26f.). Polemik („katholisch fanatisch“) und ein besonderer Sprachcode („Bekehrung“, „glaubensfrohes Gotteskind“, „Werkzeug“) machen aus Luther einen 'evangelikalen Pietisten'. Außerdem stellt ein solcher Satz eine unentschuldbare Verkürzung komplexer Entwicklungen dar, was auch den nächsten Abschnitt über „das geistliche Leben Deutschlands in der Zeit des Pietismus bis zum Aufkommen der Pfingstbewegung“ (S. 31-52) durchzieht. Es ist kennzeichnend für den Vf., dass er neuere Forschungen nicht zur Kenntnis nimmt, sondern Karl Heussi, Dieter Lange, Hans v. Sauberzweig, Jakob Schmitt u.a. zitiert, gelegentlich auch das Nachrichtenmagazin idea spektrum. Bei diesen verkürzenden Darstellungen unterlaufen auch nicht wenige Fehler. Immer wieder wird die Mystik für alle Verirrungen verantwortlich gemacht, ohne dass Vf. angibt, was er unter „Mystik“ versteht.

Für das Entstehen der „Krise um die Pfingstbewegung“ wird indirekt die „Oxforder Heiligungsbewegung“ mit ihrem Einfluss auf führende Vertreter der deutschen Erweckungsbewegung verantwortlich gemacht (S. 41). Das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert werden als „Erweckungszeit“ gekennzeichnet; vieles hätte „gesund“ weiter wachsen können, wenn nicht die Auseinandersetzung um die Pfingstbewegung manches „zu Ende“ brachte (S. 51). Auch mit diesen Aussagen werden die Weichen für eine Beurteilung gestellt. Das wird sofort im ersten Satz des nachfolgenden Kapitels „Die Ursachen der großen Krise der Erweckungsbewegung“ deutlich, der lautet: „Auf dem Höhepunkt der evangelistischen Arbeit erschütterte die große schwarmgeistige Krise von 1907-09 die damalige evangelikale Bewegung in Deutschland“ (S. 53). Vier Faktoren werden geltend gemacht: die angelsächsische Heiligungsbewegung, die Lehre vom „reinen Herzen“, die „teilweise unnüchterne Erweckung“ in Wales und schließlich die Pfingstbewegung (S. 54ff.). Sie ist der eigentliche Auslöser der Krise, die im 4. Teil („Wie die schwarmgeistige Krise die deutsche Erweckungsbewegung erfasste“) dargestellt wird. Dabei werden Thomas Barratt „bis in die Nacht andauernde Versammlungen“ bescheinigt, die „oft“ in „wildester Ekstase“ ausarteten, dafür wird aber sein Name durchgehend falsch als „Barrath“ wiedergegeben.

Die „verhängnisvollen Ereignisse von Kassel“ werden im 5. Teil, wie nicht anders zu erwarten, in den düstersten Farben gemalt. Dann werden „erste nüchterne Stimmen“ aufgeführt: Seitz, Schrenk und vor allem Dallmayer. Im 7. Teil widmet sich Vf. den Versuchen, die Einheit der Gemeinschaftsbewegung „trotz der eingedrungenen Schwärmerei“ (S. 91) aufrechtzuerhalten. Aber der „Burgfrieden“ wurde von den Pfingstlern benutzt, die Gemeinschaften „aggressiv“ zu unterwandern und eignen Strukturen aufzubauen (S. 93f.). Der 8. Teil versucht die Frage zu beantworten, wie es zur BE kam. Eine Schlüsselrolle nimmt nach Meinung des Vf.s General Georg v. Viebahn ein, der zusammen mit Walter Michaelis einen Entwurf lieferte, der dann auf einer eigens einberufenen Konferenz am 15. September 1909 verhandelt und beschlossen und von über 50 Teilnehmern durch Unterschrift gut geheißen wurde. Als Hauptaussage der BE gilt für Vf. der Satz, dass die Pfingstbewegung „nicht von oben, sondern von unten“ sei und sie viele Erscheinungen mit dem Spiritismus gemein habe (S. 97). Sein Fazit lautet, dass ohne die BE der Geist von unten „die Macht in der damaligen Erweckungsbewegung übernommen“ hätte (S.99). So aber habe sich die „nüchterne Lehre“ behauptet (S. 100).

Der 9. Teil geht der Entwicklung nach der BE sowohl in der Gemeinschaftsbewegung als auch in der Pfingstbewegung nach. Ganz im Sinn der bisherigen Darlegungen werden nach Loslösung der Pfingstler aus der Gemeinschaftsbewegung „schon bald extreme Auffälligkeiten und unbiblische Schwärmerei“ diagnostiziert (S. 113), und die Pfingstbewegung erlitt „das Schicksal aller schwärmerischen Bewegungen“, nämlich die Spaltung „in viele Gruppen und Grüppchen“. Der Mülheimer Verband gelte jedoch „mittlerweile als gemäßigte Pfingstrichtung“ (S. 116). Bei letztem Satz stimmt weder der Name (richtig: S. 123) noch die Aussage.

Der 10. Teil verfolgt die Entwicklung der Pfingstbewegung bis in die Gegenwart. Das ist wieder sehr holzschnittartig und wird angereichert durch Personen und Bewegungen, die eine Kontinuität der schwärmerischen Extreme „von den Anfängen bis heute“ verdeutlichen sollen. Dazu zählen William Branham, Oral Roberts, A.A. Allen, Kathryn Kuhlman und aus Deutschland Hermann Zaiss, Volkhard Spitzer, Reinhard Bonnke; außerdem der „Toronto-Segen“ mit dem „Ruhen im Geist“ und Wolfgang Margies sowie dem Argentinier Claudio Freizon. Das wird als „dämonischer Zirkus“ beschrieben (S. 127). Die Erweckungen in Pensacola und Lakeland sowie endzeitliche Warnungen, z.B. von David Wilkerson, gelten als Wirkungen eines falschen Geistes.

Schließlich ist der letzte Teil überschrieben „Die deutschen Evangelikalen rücken zum großen Teil von der 'Berliner Erklärung' ab“. Nach dem bisher Gesagten und der Wortwahl der Überschrift („zum großen Teil“) kann man vermuten, dass Vf. dies als falsch ansieht. So ist es in der Tat. Die „postmoderne Toleranz unserer Zeit“ sowie die „Grundaussage der Ökumenischen Bewegung 'Lehre trennt – Dienst eint'“, die sich jetzt auch „im evangelikalen Bereich“ durchgesetzt habe, sowie die deshalb aufgetretene Suche nach Gemeinsamkeiten mit der katholischen Kirche werden für die Abwendung von der BE verantwortlich gemacht (S. 133). Dazu komme, dass die Evangelische Allianz und der Gnadauer Verband „mit liberalen Kirchen und Pfarrern zusammenarbeiten“ und sich für pfingstlerische Frömmigkeitsformen durch Lobpreis- und Anbetungsgottesdienste und Mystik offen zeigen (S. 134). Das alles führte zur „faktischen Außerkraftsetzung“ bzw. zur „Aufkündigung“ (S. 135) der BE durch die „Kasseler Erklärung“ vom 1. Juli 1996 und der „Gemeinsamen Erklärung des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und des Mülheimer Verbandes Freikirchlicher-Evangelischer Gemeinden zur 'Berliner Erklärung' von 1909“, die am 18. Januar 2009 unterzeichnet wurde. Beide Dokumente, die im Anhang zum Abdruck kommen (S.148-153), sind für den Vf. „falsche Zeichen“, weil sie biblische Grundsätze aufgeben.

Zum Schluss gibt er Hinweise „zum rechten Umgang mit dem Schwarmgeist“. Dabei fällt auf, dass er oft in der „wir-Form“ formuliert, also: „was wir tun, sollten wir in Liebe tun“; „wir müssen unsere Gemeinden vor falschen Einflüssen schützen“; „wir sollten, wo immer möglich und verantwortbar, Abstand zu dieser Bewegung halten“. Das führt zu der Frage, wer sich hinter dem „wir“ verbirgt. Der Vf. schreibt stets von „evangelikalen“ Kreisen oder von „bibeltreuen Gemeinden“. Er hält es auf jeden Fall für falsch, mit den Pfingstlern gemeinsam als „evangelikal“ eingestuft zu werden. Da er sich aber von weiten Kreisen der in Deutschland sog. „evangelikalen“ Bewegung abgrenzt, weil diese die Grundsätze der BE leichtfertig aufgegeben habe, ist sein Standort der eines ziemlich isolierten „Evangelikalen“, der mit allen polemischen Mitteln die BE verteidigt und aus diesen Erkenntnissen Ratschläge erteilt, die an den Erklärungen von 1996 und 2009 vorbeigehen. Wenn er von „bibeltreuen“ Gemeinden spricht, vertritt er offenbar einen fundamentalistischen Standpunkt und kann sich daher auch nur an eine begrenzte Leserschaft richten.

Abschließend sei noch auf eine besondere Auffälligkeit hingewiesen: Der Anmerkungsapparat ist zweigeteilt; es gibt sowohl Fuß-, als auch Endnoten, die einen mit arabischen, die anderen mit römischen Ziffern.

ISBN:978-3-894-36691-9 
160 Seiten
Preis: 7,90 € 
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Zuletzt verändert: 25.11.2011 10:18