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REZENSION: Giovanni Maltese, Judith Bachmann & Katja Rakow (Hg). Global Entanglements and Pentecostal Identity Politics. PentecoStudies (Special Issue), 18 (1), 2019.

von Jens Schlamelcher

Evangelikal, Pentekostal oder Charismatisch? Die exakte Bezeichnung christlicher Gruppen jenseits von ‚Mainline‘ oder liberalen Großkirchen stellt ein altes Problem in der Religionsforschung dar. Auf Fragen von Medien oder interessierten Bürgern, was diese Gruppen denn voneinander unterscheide und ob diese oder jene Gruppe denn nun evangelikal, pentekostal oder charismatisch sei, kann oftmals nur durch unbefriedigende Antworten ausgewichen werden. Zwar gibt es eine Reihe von Definitionsversuchen, doch keine definitive Festlegung ist an sich befriedigend. Bisherige Versuche sind entweder a) zu essentialistisch, b) zuweilen normativ und pejorativ aus einer bestimmten theologischen Perspektive heraus formuliert, c) orientieren sich an einer Gruppe, deren Theologie dann zum Zentrum der Begriffsbestimmung von evangelikal, charismatisch oder pentekostal erkoren wird, auf Kosten der Vernachlässigung anderer Gruppen mit anderen theologischen Ausrichtungen, oder d) zu breit, so dass am Ende die Kategorien zuwenig analytische Trennschärfe aufweisen. Damit ist das Forschungsfeld gegenwärtiger konservativer Christentümer durch ein ähnliches Dilemma geprägt wie die heutige Religionsforschung: beide Felder werden abgesteckt durch Begriffe, die unbestimmt sind bzw. um die sich zahlreiche Bestimmungsversuche kreisen, ohne jedoch innerhalb der Wissenschaft einen Konsens zu erreichen.

Für den Religionsbegriff hat Michael Bergunder in seinem vielbeachteten Aufsatz in der ZFR aus dem Jahr 2012 das Problem auf den Punkt gebracht. Entweder der Religionsforscher wagt eine Religionsdefinition, die mindestens eine der oben beschriebenen Problematiken aufweist (Bergunder benennt diese Variante als ‚Religion 1‘), oder aber sie oder er orientieren sich an einem stillschweigenden Konsens eines allgemeinen Sprachgebrauchs, dass man ja mehr oder weniger wisse, was Religion sei, und enthält sich einer genaueren Bestimmung (‚Religion 2‘). Doch damit leistet man einem Eurozentrismus Vorschub, den es im Zuge postkolonialer Debatten zu vermeiden gilt. Bergunder plädiert daher auf Grundlage poststrukturalistischer Ansätze für eine genealogische Perspektive, die Religion als Name in einem Diskursbegriff versteht, dessen umstrittene Bedeutungen sich potentiell sedimentieren (und damit essentialisieren) als auch still und 'geschichtslos' in ihrer jeweils kontextuellen Gebrauchsweise transformieren.

Diesen Ansatz versuchen die Autoren der Pentecoast-Sonderausgabe ‚Global Entanglements and Pentecostal Identity Politics‘ für die unbefriedigende Frage nach der Abgrenzung von evangelikaler, charismatischer und pentekostaler Christentümer nutzbar zu machen. Aus den Händen der Forscher wird die Frage der Benennung und Abgrenzung nun dem Forschungsfeld überlassen. Statt sich als Forscher mit einzelnen lokalen Gruppen zu beschäftigen und diese dann gemäß hegemonialer wissenschaftlicher Praxis einem Begriff der religionswissenschaftlichen Metasprache zuzuweisen, wird in jeweils lokalen Arrangements, aber immer bezogen auf globale Diskurse, das Spiel der Benennung, d.h. der positiv konnotierten Selbstbezeichnung und der negativ konnotierten Abgrenzung, nun zum eigentlichen Teil der Analyse. Dadurch, so betonen Giovanni Maltese, Judith Bachmann und Katja Rakow in ihrem systematisch gehaltenen Einleitungsaufsatz, könne die religionswissenschaftliche Christentumsforschung aus ihrem gegenwärtigen 'Deadlock' (S. 9) herausgeführt werden. „Pentecostalism has no universal identity in terms of core essences or roots, rather it is the product of name politics“ (Maltese/Bachmann 2019: 14). Diese Einsicht bildet der Einstieg in ein Forschungsprogramm, dem dann in Detailstudien durch Anna Kirchner (Evangelikalismus unter israelischen Arabern), Johanna Weirich (Konflikte um die sozialcharitative und theologisch-praktische Ausrichtung der Salvation Army in Südindien), Judith Bachmann (Born-Again-Christianity in Nigeria) und Nora Kurzewitz (Evangelismo als antikatholische christliche Identitätspolitik) umgesetzt wird. 

Die Sonderausgabe besticht durch die konsequente Umsetzung des oben angedeuteten Forschungsprogramms und damit durch einen für Sammelbände ungewöhnlich hohen Grad an theoretischer und thematischer Kohärenz. Die in dem Heft versammelten Aufsätze geben Zeugnis davon ab, dass die diskursiven Auseinandersetzungen um Fragen der Benennung von Strömungen und den Grenziehungen, wer dazu gehöre und wer nicht, nicht ausschließlich im Elfenbeinturm der Wissenschaft allein vonstatten gehen. Im Gegenteil, sie sind Bestandteil von Auseinandersetzungen religiöser Akteure selbst. Die Aufsätze insgesamt demonstrieren, „that “Pentecostal” or “Evangelical” are not fixed descriptors of essential characteristics but names that emerge in different local contexts tied into and constantly influenced and modified by global debates“ Weirich 2019: 40). Evangelikale israelische Araber beispielsweise haben Schwierigkeiten mit dieser Selbstbezeichnung, weil ihr eigener innerisraelischer Dachverband nicht von der World Evangelical Alliance anerkannt wird, vor allem aber, weil der globale Evangelikalismus zu einer eher pro-israelischen Haltung im israelisch-palästinensischen Konflikt neigt (Kirchner 2019: 31 ff.). In Costa Rica müssen sich evangelikale Gruppen einerseits gegenüber einem hegemonialen Katholizismus verorten und sich ebenso einem ökumenischen Feldzug gegen säkulare Biopolitik anschließen, während sich in Nigeria eine ‚Born-Again‘-Identität in Abgrenzung und Ablehnung islamische Strömungen wie auch indigene neo-traditionale Heilungspraktiken herausgebildet hat. Mit Ausnahme der Untersuchung von Johanna Weirich zur Salvation Army in Indien wird dabei deutlich, dass dem Begriff ‚Pentekostalismus‘ in den untersuchten religiösen Feldern kaum eine Bedeutung zukommt, sondern die Selbstbeschreibungen eher über ‚evangelikal‘, ‚born again‘ oder andere Begriffe verlaufen.

In der Synopse zeigen die jeweiligen Detailstudien recht deutlich, dass sich im globalen ‚evangelikalen Feld‘ trotz unterschiedlicher regionaler Kontexte einige parallele Entwicklungen feststellen lassen. So spiegeln sich die schon für die Religionswissenschaft in der Einleitung diagnostizierten Uneindeutigkeiten in der wissenschaftlichen Fremdbeschreibung auch auf lokaler Ebene in den jeweiligen Selbstzuschreibungen und Abgrenzungsdynamiken religiöser Gruppierungen. Zweitens finden diese dynamischen Auseinandersetzungen um Benennung und Abgrenzung jeweils zugleich in einem lokalen und einem globalen Rahmen ab. Und drittens reagieren die religiösen Gruppen in ihrer Identitätspolitik auf politische und zumal religionspolitische Akzentsetzungen ihrer jeweiligen Heimatstaaten. Viertens zeigen die Aufsätze, dass die Frage nach der Benennung relativ unabhängig von der religösen Praxis sind. In einigen Gemeinden, die sich selbst als pentekostal bezeichnen, werden oftmal typisch ‚pentekostale Praktiken‘ wie z.B. Glossolalie nicht praktiziert. ‚Charismatische‘ Theologien haben längst auch Einzug in die katholische Kirche gehalten (z.B. in Costa Rica, so Kurzewitz 2019: 79ff).

Die Unterscheidung von strategischer Selbstbeschreibung und gelebter religiöser Praxis ziehen sämtliche Autoren und betonen, ähnlich wie Daniel Boyarin (2004) dies für die spätantiken christlich-jüdischen Abgrenzungssprozesse beobachtete, eine Art von ‚Schmuggel‘, also eine Art von strukturellem Isomorphismus. Damit schließt sich aber wieder interessanterweise ein Zirkel, der zum Weiterdenken über den hier vertretenen und sehr wichtigen theoretischen Ansatz hinaus einlädt. Die in diesem Sammelband vertretenen Autoren beharren nachvollziehbarer und richtigerweise Weise darauf, die Selbstbezeichung von Gruppen, ihre Benennung und damit den strategischen Einsatz von identity markers zum Teil einer religionswissenschaftlichen Analyse zu machen, anstatt diesen Gruppen einen Namen mit wissenschaftlichen Weihen aufzuoktroyieren. Doch durch den in den Artikeln angedeuteten strukturellen Isomorphismus stellt sich zugleich die Frage, ob sich nicht eine oder zumindest einige bennenbare neue Formation(en) religiöser Praxis unabhängig von den strategischen Benennungs-, Positionierungs- und Abgrenzungsmanövern durchzusetzen. Im organisationssoziologischen Ansatz des Neo-Institutionalismus ist dafür das Wort struktureller Isomorphismus vorbehalten: die Gleichzeitigkeit zunehmender struktureller Ähnlichkeit (u.a. von Wirtschaftsprodukten oder Organisationskulturen) und semantischer Abgrenzung (z.B. durch Marken). Die hier vorliegenden Detailstudien geben zumindest Anlass zu der Frage, ob sich ein solcher, immer gebrochen durch glokalisierte Bedingungen, nicht auch im religiösen Feld vollzieht.

Diese Frage hat zugleich theoretische Konsequenzen. Denn das mögliche Bemühen, diese strukturellen Kongruenzen religiöser Vorstellungen und Praktiken zu identifizieren, würde vermutlich wiederum den Akt einer wissenschaftlich-distanzierten Benennung notwendig machen. Und daraufhin könnten religiöse Gruppen die neu gewonnene wissenschaftliche Erkenntnis wiederum für ihre strategischen Positionierungsprozesse nutzbar machen. Dies wiederum verweist auf die Unentrinnbarkeit und Verwirrungen zwischen religiöser Objektsprache und wissenschaftlicher Metasprache, die in der postrukturalistischen und postkolonialen Einsicht mündet, dass die Religionwissenschaft mehr ist als nur distanzierte wissenschaftliche Beobachtung von Religion; sie ist, ohne dies unmittelbar zu beabsichtigen, auch Motor der Religionsgeschichte.

Der Sammelband zeigt auf, dass ein wissenschaftlicher Fortschritt nicht durch Aufbruch, sondern nur durch die Anerkennung dieser Tatsache bestehen kann. Durch sein durchgehend hohes wissenschaftliches Niveau regt er zum Weiterdenken an. Die Lektüre dieser Sonderausgabe als wichtiger Beitrag zur globalen Erforschung evangelikal-charismatisch-pentekostal-born-again-usw.-Christentümer kann entsprechend vorbehaltlos empfohlen werden.

 

ISSN 2041-3599 (print)
ISSN 1871-7691 (online)
123 Seiten
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Zuletzt verändert: 02.06.2020 22:28