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REZENSION: Manfred Baumert, Natürlich – übernatürlich. Charismen entdecken und weiterentwickeln. Ein praktisch-theologischer Beitrag aus systematischtheologischer Perspektive mit empirischer Konkretion. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2011.

von Christoph Fischer

Mit einer überarbeiteten Fassung seiner 2009 angenommenen Dissertation zum Thema „Charismen entdecken und weiterentwickeln“ legte Manfred Baumert 2011 im Peter Lang Verlag ein umfangreiches Werk vor. Das (ohne die 62-seitige Bibliographie) rund 450 Seiten starke Buch besticht durch die Verbindung von historischer und systematisch-theologischer Forschungsarbeit mit aktueller empirischer Datenanalyse auf der Basis einer Onlinebefragung, die sowohl im Bereich der Evangelischen Kirche in Baden, als auch in pentekostal-charismatischen Kreisen durchgeführt wurde.

Baumerts Werk unterteilt sich grob in drei große Hauptteile. Nach der Einführung in das Thema beschäftigt der Autor sich zuerst mit den großen historischen Positionen zu den Charismen, wobei historisch nicht nur als „alt“ zu verstehen ist. So findet sich in dieser Liste, die Baumert zudem nicht chronologisch, sondern inhaltlich nach den jeweils beschriebenen Typologien sortiert, die Position von Maximilian C. E. Weber (2001), ebenso wie die Position Martin Luthers, die unter dem Begriff Personal-relationale Typologie einen besonderen Raum erhält. Ergänzt werden diese Positionen im zweiten Kapitel durch eine aktuelle systematisch-theologische Diskussion des Charismenbegriffs im Allgemeinen und der Frage nach der Entdeckung von Charismen im Besonderen. Abgerundet wird diese Diskussion durch eine detaillierte Untersuchung der gängigen Gabentests und der ihnen zu Grunde liegenden Charismenmodelle. Nach einer kurzen Vorstellung und kritischen Bewertung der einzelnen Tests diskutiert Baumert noch einmal abschließend Gemeinsamkeiten und theologische Ansätze der verschiedenen Autoren.

Dieser theoretischen Diskussion stellt Baumert im zweiten Hauptteil seiner Arbeit eine umfangreiche empirisch-theologische Untersuchung gegenüber. Hierbei fließen die im ersten Teil ausgearbeiteten theologischen Typologien sowie die Erkenntnisse zu den Charismenmodellen der Gabentests in die Erstellung eines umfangreichen Online-Fragebogens ein, der 187 Pfarrern aus der Evangelischen Kirche in Baden vorgelegt wurde. Der Fragebogen umfasst 10 Itembatterien mit insgesamt 58 Items, von denen die meisten im Multiple-Choice-Verfahren zu beantworten sind, einige jedoch aber auch eine kurze selbstformulierte Antwort erfordern. Inhaltlich reichen die Fragen von der Methodik der Mitarbeiterauswahl über das theologische Gabenverständnis, Gemeindeprofil und praktische Erfahrungen bei der Erkennung und im Umgang mit Gaben. Interessant ist, dass sich von den 10 Itembatterien nur eine einzige (Nr. 9) mit insgesamt 5 Items auf die zuvor ausführlich diskutierten Gabentests bezieht. Davon werden nur zwei – Bill Hybels' D.I.E.N.S.T und das „Drei-Farben-Modell“ von Christian Schwarz namentlich genannt. Alle anderen werden unter einer allgemeinen Fragen nach weiteren bekannten Gabentests zusammengefasst. Die Ergebnisse der Befragung beschreibt Baumert zunächst ausführlich pro Item, um anschließend mit Hilfe statistischer Analyseinstrumente wie des t-Tests eine Reihe von Korrelationen zu analysieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Als besonders erwähnenswert sind hierbei vor allem die starke Korrelation zwischen Gemeindetypus und Gabenentwicklung, die starke Rolle des vom Pfarrer zu Grunde gelegten Gabenverständnisses sowie des gelebten Vorbilds, sowie die relative geringe Relevanz von Gabentests zu nennen.

Einem triangulären Ansatz folgend, ergänzt Baumert diese Befragung mit einer weiteren Erhebung unter Gemeindemitgliedern aus derselben Landeskirche. Im Gegensatz zu dem umfangreichen Fragebogen für die Pfarrer erfolgte diese zweite Erhebung durch qualitative Interviews, für die Baumert einen ausführlichen Leitfaden erstellt. Als zusätzliches Kontrastmittel wird in diese Befragung zudem eine charismatische Freikirche im geographischen Kontext der EkiBa einbezogen, auf deren charakteristische Merkmale Baumert in der theoretischen Diskussion ausführlich eingeht. Interessant ist der darauf folgende Vergleich der beiden so interviewten Gruppen (Freikirche, Landeskirche), der in die Feststellung mündet, dass sich trotz unterschiedlicher Gemeindemodelle und theologischer Deutungen des Gabenbegriffs die grundsätzlichen Wahrnehmungsstrukturen in Bezug auf die eigenen Gaben nicht wesentlich unterscheiden.

Der Vergleich zwischen der Pfarrerbefragung und den Interviews mit Gemeindegliedern bildet den Schluss des zweiten Hauptteils. Baumert verweist auf die inhaltliche Diskrepanz in den Antworten der beiden Gruppen und bemängelt die fehlende Kommunikation zum Gabenbegriff zwischen den Pfarrern mit Expertenwissen auf der einen und den im Umgang mit Gaben relativ unsicheren Gemeindemitgliedern auf der anderen Seite. Grundgedanke des dritten Hauptteils von Baumerts Arbeit ist es, die Ergebnisse der unterschiedlichen Forschungsansätze der zwei vorangegangenen Hauptteile miteinander zu betrachten. Aus dem Vergleich zwischen Theorie und Praxis formuliert Baumert insgesamt 46 Thesen für die Entwicklung der Gaben in der Kirche. Baumert geht dabei zunächst auf die theologischen Gabenmodelle ein. Hier nimmt er eine deutliche Diskrepanz zwischen dem landeskirchlich akzeptierten Gabenverständnis und der tatsächlich gelebten Praxis war. Besonders deutlich macht sich dies an der Tatsache fest, dass in der Praxis weder Konversion noch Taufe eine wesentliche Rolle in der Gabenentwicklung zugesprochen werden. Verstärkte Kommunikation und Lehre über die Gaben, eine Entwicklung hin zu einem missionarischen, partizipatorischen Kirchenmodell sowie eine bewusste Pluralität der Deutungsmodelle bei der Gabenerkennung erscheinen Baumert als unabdingbare Entwicklungsschritte hin zu einem besseren Umgang mit den Gaben in seiner Landeskirche.

Auf den letzten sieben Seiten seiner Arbeit reißt Baumert abschließend die Grundzüge eines trinitarischen Charismenmodells an, das er im Kontext einer missionarischen Gemeindearbeit für förderungswürdig hält. Baumert zeigt hier, wie eine Triade aus Schöpfungsgaben, Christusgaben und Geistesgaben die Kirche für Menschen öffnet, die sich mit ihren präkonversionellen Schöpfungsgaben bereits einbringen können, sich dann im Kontakt mit Kirchenmitgliedern öffnen und nach einem Konversionserlebnis mit neuen, Christus- und Geistesgaben wieder (aus-)senden lassen.

Baumerts Werk in der Ausführlichkeit ihrer Betrachtungen sowohl im theologischen als auch im empirischen Bereich einen Meilenstein in der Charismendiskussion, besonders im landeskirchlichen Bereich, dar. Brillant wird es allerdings in der Kombination der beiden Teilbereiche, die es ermöglicht, konkrete Handlungsempfehlungen auszusprechen, die sich aus dem Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis ergeben. Auch wenn sich Baumert deutlich auf den landeskirchlichen Kontext konzentriert, regen die umfangreichen Grundsatzdiskussionen auch in anderen kirchlichen Umfeldern zum Nachdenken über das eigene Charismenverständnis an. Viele der Schlussfolgerungen lassen sich sicher auch in andere kirchliche Situationen übertragen.

Diese gelungene Kombination aus Theologie und Empirie lässt den Leser auch über einzelne Schwächen hinwegsehen: So ist die pentekostal-charismatische Kontrastgruppe mit lediglich drei befragten Personen nicht nur sehr klein, sondern auch einem charismatischen Teilbereich zuzuordnen, der sicher nicht als repräsentativ für die gesamte charismatische Welt, geschweige denn den pentekostalen Sektor, gelten kann. Hier fragt man sich, ob das Gesamtwerk viel verloren hätte, wenn diese Kontrastgruppe einfach unerwähnt geblieben wäre. Bedauernswert ist auch die Tatsache, dass das trinitarische Modell am Ende des Buches nur sieben Seiten bekommt – ein verschwindend geringer Anteil an den insgesamt 514 Seiten des Buchs. Auch wenn Baumert in den grauen Textboxen des vorangegangenen Kapitels bereits 46 Thesen mit Handlungsempfehlungen präsentiert hat, bleibt das gesamte Buch so doch überwiegend eine Situationsanalyse, die den Leser bei der Frage nach den nächsten Schritten ein Stück weit in der Luft hängen lässt – vielleicht aber einfach nur Hunger auf mehr macht.

Baumerts Buch ist auf Grund seines Umfangs, seiner gehobenen Fachsprache und seiner ausführlichen Beschäftigung mit theoretischen Grundlagen keine einfache Lektüre. Trotzdem lohnt es sich, die über 500 Seiten in Angriff zu nehmen – und das nicht nur für den Leser aus einer evangelischen Landeskirche.

 

ISBN: 978-3-631-61388-7 br. (Softcover)
XXVI, 514 Seiten, zahlreiche Tabellen und Grafiken
Preis: €84,80
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Zuletzt verändert: 28.01.2014 10:35