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REZENSION: Ekkehart Vetter, Jahrhundertbilanz- erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt. Bremen: Missionsverlag des Mülheimer Verbandes , 2009.

von Gottfried Sommer

Die 'Jahrhundertbilanz' ist ein Werk, das sowohl für den Historiker wie für die Gemeindearbeit geeignet ist.

Die 'Jahrhundertbilanz' liefert Daten, die in dieser Übersichtlichkeit in keinem bisherigen Werk erscheinen. Dazu gehört das sauber recherchierte statistische Material für die Mitgliederzahlen nach 1945 aber auch die Auflistung der Konferenzen und Sonderveranstaltungen für die Jahre 1910-1913 als Wachstumsindiz und die chronologische Übersicht im Anhang.

Übersichtlich und inhaltsreich sind auch die biographischen Abrisse bedeutender Leiter der Bewegung. Inhaltliches Neuland ist die kenntnisreiche und selbstkritische Darstellung des Verhaltens des Mühlheimer Verbandes während der Zeit des Nationalsozialismus und deren Aufarbeitung zu Beginn der 1990er Jahre. Wertvoll auch die umfangreiche Darstellung der verschiedenen Selbstfindungsprozesse in der Nachkriegszeit bis zur vollzogenen Freikirchenwerdung im Jahre 1998.

Der Historiker profitiert von einem siebenseitigen Literaturverzeichnis, welches neben wichtiger Sekundärliteratur auch Primärquellen enthält, zu denen die gesondert aufgelisteten Zeitschriften der Bewegung gehören. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel über die Literaturarbeit des Mülheimer Verbandes, in welchem eine Auflistung der wichtigsten Kleinschriften der ersten Jahre enthalten ist. Bisher recht unbekannt waren die Beziehungen zu den freien Pfingstkreisen nach 1945, besonders im Zusammenhang mit den Vereinigungsbestrebungen und den Plänen für die gemeinsame Gründung einer Bibelschule, über die Ekkehart Vetter erfreulicherweise recht ausführlich berichtet. Allerdings fehlt der 'Jahrhundertbilanz' eine ähnliche Darstellung über die Beziehungen zu den freien Pfingstkreisen vor 1945. Denn schon bald nach der Gründung der 'deutschen Pfingstbewegung', wie der Mülheimer Verband in den ersten Jahrzehnten leicht vereinnahmend auch genannt wurde, gab es nicht nur einzelne Prediger, die aus diesem ausschieden und sich verselbständigten, sondern weitere freie Pfingstgemeinden und -bewegungen, welche deutsche Gründungen waren. So zum Beispiel die vom Autor nur am Rande erwähnte Elim-Bewegung, deren Gründer und langjähriger Leiter Heinrich Vietheer, der Schwiegersohn Jonathan Pauls, war. Benjamin Schilling, vom Mülheimer Verband ausgeschlossen, half, ein ganzes Netzwerk freier Gemeinden zu organisieren. Diese Kreise, deren Mitgliederzahlen sich wohl zusammen auf weit über 10000 Mitglieder beliefen, wenigstens zu nennen, hätte geholfen, die Bezeichnung 'deutsche Pfingstbewegung' zu relativieren. Eine ganze Reihe von Predigern dieser freien Kreise hatte Beziehungen zum Mülheimer Verband. Fast unbekannt ist auch, dass 'Mülheimer' Prediger auch außerhalb Deutschlands zur Gründung von Pfingstgemeinden beitrugen, zum Beispiel unter Volksdeutschen im ehemaligen Jugoslawien.
Aber natürlich kann ein Werk, das einen Überblick über 100 Jahre geben will, nicht alles abdecken.

Es wäre auch interessant gewesen zu erfahren, wie es möglich war, dass Teile der Neuapostolischen Kirche dem Mülheimer Verband beitraten, aber schließlich soll dem Historiker ja auch Anreiz zur eigenen Forschung geboten werden. Aufgrund der Fülle des gut recherchierten und gefällig aufbereiteten Materials sind auch kleinere Ungenauigkeiten und Fehler zu verschmerzen. So war zum Beispiel der Baron von Kottwitz nicht der Organisator und Vorkämpfer der Pommerschen, sondern der Berliner Erweckungsbewegung. Für Pommern hätten auch die Brüder von Below als wichtige Leiterpersönlichkeiten genannt werden können, deren Bewegung einflussreicher als bisher angenommen, aber kirchenkritisch war. Diese Erkenntnis kann aber den positiven Gesamteindruck nicht schmälern.

Es fällt auf, dass von den über 500 Seiten des Werkes nur knapp 150 der Zeit von 1945 bis heute gewidmet sind. Dies ist aber nicht von Nachteil. Gerade die Anfänge des Mülheimer Verbandes waren eine umkämpfte, aber bis heute lehrreiche Zeit. Und nur, wer aus der Geschichte lernt, läuft nicht Gefahr, sie zu wiederholen. Manchmal gilt es, den Kampf der Väter wieder aufzunehmen, wenn Verflachung und Beliebigkeit drohen. Da es aber die 'klinisch reine' Erweckung nicht gibt und sich immer Schlacken bilden, ist die Dokumentation von geistlichen Reinigungsprozessen hilfreich. Und das nicht nur für den Mülheimer Verband selbst, welcher oft für die gesamte Pfingstbewegung an der argumentativen Front stand, während er von den freien Kreisen 'rechts überholt' wurde. Da im pfingstlich-charismatischen Spektrum überhaupt das Geschichtsbewusstsein nicht besonders ausgeprägt ist, empfiehlt sich die 'Jahrhundertbilanz' auch als Vorlage für eigene historische Aufarbeitungen, da sie eben keine Hagiographie darstellt. So gehört sie eigentlich in jede Gemeindebibliothek dieser Frömmigkeitsrichtung. Die hervorragende optische Aufmachung mit reichem Bildmaterial unterstreicht diese Empfehlung.

 

 

 

Zuletzt verändert: 28.09.2010 22:26